Stuttgart, 16.07.2005
Die Eigenart der Choreografie liegt in der
Auflösung der Grenze zwischen dem Bühnenaufbau und der
Performance selbst. Auf diesem Hintergrund stellt die Tänzerin
Alexandra Naudet mittels ausdrucksstarker Tanzleistung und
überzeugender Mimik vielfältige Frauenbilder dar. Ihre Frauencharaktere
werden als wiederholte Serien von Posen präsentiert, die sich
bis über die Grenzen der Normalität entwickeln. Die Musik
besteht überwiegend aus Popsongs und Evergreens, die passend zu den
dargestellten Frauenbildern ausgesucht wurden. Die Ausarbeitung der
zentralen Gestaltungsidee ist erfinderisch, die Tanzleistung von
Alexandra Naudet hervorragend und das Rollenspiel ihrer Begleiter als
Bühnenarbeiter souverän. Das Stück gehört mit zu den besten der
aktuellen Tanzproduktion.
Die von Stephanie Thiersch geschriebene Choreografie wurde zum
ersten Mal im April 2005 aufgeführt. Beim Tanz handelt es sich mit
wenigen Ausnahmen um eine Solo-Performance von Alexandra Naudet, die
Tänzerin begleiten drei Schauspieler in den Rollen von
Bühnenarbeitern. Tanz und Bühnenaufbau verlaufen parallel und
überlappend, mal ignorieren sie sich, mal stören sie sich gegenseitig.
Ihr Neben- und Durcheinander gibt dem Stück einen einmaligen Rahmen.
Die Verquickung von Performance und Bühnenaufbau fängt bereits vor
dem Beginn an. Den wartenden Besuchern wird mitgeteilt, dass sich
der Einlass um 10 Minuten verzögere, weil
die Vorbereitung der Bühne noch nicht abgeschlossen sei. Als sie
hineingelassen werden, finden sie trotzden noch zwei Männer und eine
Frau in schwarzer Arbeitskleidung auf der Bühne, die
Scheinwerfer hin und her ziehen, eine Doppelleiter über die
Bühne schieben und schwere Kisten schleppen. Erst als Alexandra Naudet
in Zivilkleidung und mit einem Rucksack auf dem Rücken ("Sorry, I am late")
die Bühne betritt, begreifen alle, dass die Performance bereits läuft.
Bühnenaufbau und Performance werden nicht nur in Raum und Zeit
vermischt, sondern auch in der Identität ihrer Protagonisten. Die
Tänzerin nimmt an einer Arbeitsbesprechung teil oder bringt der
Tontechnikerin eine CD ("Can you play this song for me, please?") und die
Bühnenmeisterin überrascht mit zwei wilden Tanzpassagen. Außerdem
erscheint sie in einer Aktionseinlage, ausgezogen und an den Füßen
von der Decke hängend. Sogar die tätowierten Kulissenschieber wagen
eine eigene Tanzeinlage, bei der jedoch - womöglich aus guten Grünen -
die Beleuchtung so weit reduziert wird, dass ihre Bewegung nur
andeutungsweise zu erkennen ist. In ihren Standardrollen sind die
Männer jedoch souverän, die reine Performance (gespielter Bühnenaufbau)
und Realität (Aufbau von tatsächlich benötigten Kulissen) sind nicht zu
unterscheiden.
Als Musikbegleitung bekommen die Zuschauer zunächst die
verführerische Stimme von Portishead zu hören. Diese zeichnet die erste
Serie von Frauencharakteren vor, die von Alexandra Naudet als eine
Spirale von Posen dargestellt wird, bei denen sie sich um ihre Achse
dreht und gleichzeitig in mehreren Schritten von der Sitzlage in
ausgestreckte Standlage wechselt. Die ersten Serien tanzt sie sehr
langsam und mit ausdruckslosem Gesicht. Dann steigt das Tempo
allmählich und die Gesten werden provozierend, bis in einer Pose der
Griff in den Schritt dazu kommt, der in jeder Wiederholung aggressiver
wird. Das Tempo und die Erotisierung werden bis zu einem ad absurdum
geführten Höhepunkt gesteigert.
Eine ähnlich strukturierte Serie tanzt A. Naudet später auf dem
inzwischen auf der Bühne ausgerollten Fertigrasen. Auch diese Serie
fängt sehr langsam und mit entspanntem Gesichtsausdruck an und steigert
sich im Tempo und Ausdrucksintensität, sie entwickelt sich jedoch nicht
zur sexuellen Handlung, sondern zum Verlust der Kontrolle über sich
selbst, zur Geisteszerstörung und zum Wahnsinn. Als Musikbegleitung
wurde ein Titel der Mamas and Papas aus den 70er Jahren gewählt, er
wird jedoch nicht in der Originalfassung sondern als hartes Remake
gespielt, welches parallel zur Entwicklung des getanzten Frauenbildes
immer mehr verfremdet wird. Die Musik evoziert die Annahme, dass für
die geistige Zerstörung möglicherweise auch Drogen- oder Alkoholkonsum
als Vorbild standen.
Die Verwendung von echtem Fertigrasen auf der Bühne ist nicht neu,
aber wirksam. Das Gewicht der Rasenpakete beim Ausrollen, der sich
ausbreitende Geruch und der unter den Füßen der Tänzerin aufgewirbelte
Staub holen den Zuschauer in die materielle Realität, wie es die
Aktionskunst forderte. Nach der zweiten Serie von Frauenbildern werden
weitere Rasenpakete angefahren und ausgerollt, bis die ganze Bühne zur
grünen Wiese wird.
Alexandra Naudet wechselt hinter einer Wand aus farbigen Glaskacheln
die Kleidung (siehe Bild unten) und beginnt den letzten Teil der
Performance. Vorsichtig wie auf der Flucht überquert sie die Bühne in
Zeitlupenbewegung, verschwindet kurz aus dem Blickwinkel der Zuschauer
und erscheint dann plötzlich für wenige Sekunden im Licht der
Scheinwerfer, an den Füßen von der Decke hängend. Es ist die gleiche
Szene, die zuvor von der Bühnenmeisterin präsentiert wurde, und es
sieht recht gefährlich aus. Nur die hinter einer Stange verhakten Füße
halten die Tänzerin von einem tödlichen Sturz auf den Kopf ab. Was ist
der Sinn der Aktionen, die keinen unmittelbaren Zusammenhang mit dem
Ablauf der Performance erkennen lassen? Sie symbolisieren die ultimative
Gewalt gegen Frauen. Warum werden sie zusammenhanglos dargestellt
(zumindest die erste)? Auf die gleiche Weise werden Nachrichten dieser
Art auch in der realen Welt präsentiert und rezipiert: unvermittelt, schockierend
und unverständlich. Und ebenso schnell wie auf der Bühne verschwinden
sie aus dem Bewusstsein, dort wie hier geht das Leben gleich weiter.
Erstaunlich, welche Aussagen in den nur wenige Sekunden andauernden
Szenen vermittelt werden können.
Das letzte Solo auf dem Rasen arbeitet mit komplexeren
Bilderabfolgen und beinhaltet auch eine Szene, die dem Stück seinen
Namen gab: Die Tänzerin vergräbt sich unter dem Fertigrasen.
Im abschließenden Solo kommt auch das aus den
Plakaten bekannte, vulgär herausfordernde Frauenbild vor. Zum Schluss
wird die Musik durch elektronisches Vogelgezwitscher ersetzt und die
Tänzerin fliegt wie ein Spatzenhaufen in alle Richtungen davon. Wer
möchte, kann auch hier Symbolik suchen, nötig ist es jedoch nicht.
Für mich gehörte diese Choreografie zu den besten, die ich in
diesem Jahr gesehen habe. Nur die niedrige Zuschauerzahl,
die für den Robert-Bosch-Saal in Stuttgart leider keine Ausnahme ist,
trübte den Gesamteindruck. Man dürfte annehmen, dass Bühnentanz in
Stuttgart kein Fremdwort ist! Oder gehen die Stuttgarter nur in
die großen Häuser zu großen Kompanien? Jedenfalls sollte das Management
vom Rotebühlplatz überlegen, ob die Bekanntmachung ihrer
Tanzveranstaltungen ausreicht und ob es andere Möglichkeiten gibt,
bedeutend mehr Besucher für ihre erstklassige Auswahl von Choreografien
zu mobilisieren.
Choreografie: Stephanie Thiersch
Tanz: Alexandra Naudet
Bühnendesign: Augustina Sario
Production: mouvoir, tanzhaus NRW, La Chaufferie, koelntanzagentur
Bericht: Petr Karlovsky
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